Juliette wollte kein Mitleid. So hatte sie es gesagt, und von Rhaego hätte sie sowieso keins bekommen. Aber was war das für ein komisches Gefühl, das langsam in ihm aufstieg? Verständnis?
Nein! Sie hatte ihn belogen – hatte sie alle belogen! Mitgefühl war eine Schwäche, war das nicht die zentrale Lektion im Zirkel gewesen? Und trotzdem hatte sie ihm das Leben gerettet, in letzter Sekunde. Nun ja, immerhin hatte sie ihn erst in Gefahr gebracht. Und doch konnte er ihr das nicht ganz verübeln, denn hätte sie nicht getan, was sie glaubte tun zu müssen, säße er noch immer im Turm fest.
Schweigend musterte er die Umgebung, während die anderen Juliette ihr Verständnis ausdrückten. Wieso konnten sie ihr einfach so vergeben, ihrer aller Leben in Gefahr gebracht zu haben? Immerhin hatte Juliette ihnen nicht das Leben gerettet, eher andersherum, wenn er an den dicken Qualm dachte.
Nein. Nein! Er würde sich jetzt nicht damit beschäftigen, was er ihr schuldete. Er wollte nicht daran denken, sich nicht mit ihr auseinandersetzen. Wütend kniff er die Augen zusammen und wandte sich ab.
Endlich beendete Leirâ das Gespräch: "Fâr zu. Wir mûssen so vîl weg wî môglich zwischen usn und dîse Lête bringen."
Das Rumpeln des Wagens wurde stärker, als der Bär noch etwas beschleunigte. Rhaego ignorierte es jedoch und bewegte sich zu der blinden Händlerin hinüber, ohne Juliette noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Beinahe wäre er gestürzt, als der Karren über eine besonders große Unebenheit holperte, doch er fing sich gerade noch und hielt sich für die nächsten Schritte am Rande des Wagens fest. Er glaubte, die Blicke der beiden Frauen in seinem Rücken zu spüren, während er sich schließlich äußerst unelegant neben die Händlerin plumpsen ließ.
„Lasst uns über Euren Stab reden“, eröffnete er das Gespräch, während die Händlerin ihn fragend ansah. Es verwirrte ihn jedes Mal, dass die blinde Frau ihm immer in die Augen blickte. Als ob sie genau wüsste, wo diese waren. Er schüttelte sich leicht, ehe er fortfuhr: „Könnt Ihr mit noch etwas mehr darüber erzählen? Es könnte sein, dass es einen größeren Zusammenhang zwischen ihm und unserem Vorhaben gibt, als es auf den ersten Blick erscheint.“ Er zögerte einen Moment, doch ihm blieb eigentlich keine Wahl. Wenn Adriana irgendetwas wusste, dann war das wichtig. „Diese Rune zum Beispiel, die in das Holz eingegraben ist – wisst Ihr, was sie bedeutet?“