Turm des Magierzirkels – Gemächer der Magier
Tag drei, 05:12

Lediglich das schwache Licht der Sterne fiel in den Raum und ließ nur schwache Schatten erkennen. Plötzlich wurde der Frieden in dem Zimmer durch eine Bewegung durchbrochen. Der Mann, der bisher friedlich in dem Bett geschlafen hatte, schreckte auf, als ob er von einem Albtraum geplagt worden wäre. Seine blonden Haare schimmerten im Sternenlicht, als er sich langsam aufsetzte. Langsam rieb er sich den Schlaf aus den Augen, schlug die Decken zurück und stand auf. Rhaego ging zum Fenster und setzte sich dort auf das breite steinerne Fensterbrett. Unter ihm erstreckte sich der Calenhad-See in voller Größe. Tagsüber schien das Sonnenlicht immer auf dem tiefblauen Wasser zu tanzen, jetzt erschien es dem Magier, als wäre dort nur ein riesiges, schwarzes Loch.
Am Ufer des Sees konnte er Port Calenhad erkennen, in der Taverne brannte selbst um diese Uhrzeit noch Licht. Hinter ihren Fenstern konnte er einige Schemen sehen, die dort hin und her liefen. Manchmal wünschte er, er wäre dort unten, würde endlich sehen, wie das Gasthaus von innen aussah. Er hatte es schon von nahem betrachten können, einmal, vor vierzehn Jahren. Damals hatte er aber nicht darauf geachtet, sondern war viel mehr mit dem riesigen Turm beschäftigt gewesen, zu dem ihn die Templer gebracht hatten.
Jetzt wünschte er, er hätte sich die Taverne anschauen können. „Die verwöhnte Prinzessin“ hieß sie. Er hatte gehört, wie einige Templer darüber geredet hatten. Viele der Templer entspannten sich nach ihrem Dienst dort, obwohl sie es eigentlich nicht tun sollten.
Er würde auch gern dorthin gehen, in das Gasthaus, oder auch irgendwo anders hin, Hauptsache weg von dem Turm. Weg von den Templern, die immer alles vorschrieben, weg von diesen angepassten Magiern, die stillschweigend ihr Los ertrugen, weg von den dicken, einengenden Mauer – weg.
Aber das war unwahrscheinlich. Wenige Magier verließen den Turm, nachdem sie ihn einmal betreten hatten. Ein paar waren in den Süden gezogen, um sich der Dunklen Brut entgegen zu stellen, nur einer waren zurückgekehrt. Er wusste nicht sicher, wie die Schlacht abgelaufen war, nur dass die Templer beunruhigt waren, aber das lag vor allem an Uldreds Rückkehr. Der Magier war noch nie einer der Templer-Freunde gewesen, aber nun... Die Templer hielten ihn so gut wie möglich unter Verschluss, Gerüchte über eine baldige Besänftigung wurden laut.
Die sowieso angespannte Situation im Turm wurde noch angespannter. Magier trauten sich fast nicht mehr mit Templern zu reden und flüsterten hinter deren Rücken über einen Aufstand.

Viele Meter unter Rhaego ging die Tür der Taverne auf. Ein Betrunkener stolperte aus der Helligkeit und der Wärme des Schankraums, schüttelte sich einmal in der Kälte und machte sich dann auf den Heimweg.
Der Magier am Fenster wandte sich ab und ließ suchend seinen Blick zu dem Kamin streifen. Er konnte nur die Umrisse sehen, doch er wusste, dass noch Feuerholz darin bereit lag. Ein Flüstern, eine kleine Handbewegung, und schon züngelten Flammen an dem trockenen Holz empor und breiteten sich knisternd aus, bis im ganzen Kamin das Feuer hell aufloderte. Rhaegos Mundwinkel zuckten kurz. Feuer war schon immer sein Element gewesen, seit sich damals – vor fast zwanzig Jahren – seine Magie darin gezeigt hatte. Er erinnerte sich noch genau daran, an jeden Moment dieses Ereignisses, von dem er damals nichts verstanden hatte – nicht einmal, dass er es verursacht hatte.

Rhaego war dreizehn und furchtbar wütend auf seinen Vater. Er hatte ihn bestraft für etwas, was er nicht getan hatte, hatte nicht zugehört, nicht verstanden – nicht verstehen wollen! - und einfach zur Rute gegriffen. Um größerer Strafe zu entgehen, hatte er seine Wut zurückgedrängt und war davon gestürmt. Seine Schwester Rhaenys hatte bemerkt, was geschehen war, und folgte ihm.
Erst als sie weit außer Hör- und Sichtweite des Dorfes waren, umgeben von dichtem Wald, drehte Rhaego sich zu seiner Schwester um und ließ seinem Zorn freien Lauf.
„Es ist einfach ungerecht!“, schrie er. „Ich habe nichts getan! Warum glaubt er eigentlich immer, alles zu wissen?“
Rhaenys stand ein paar Schritte entfernt. Sie sah ihn traurig an, als ob es ihr Leid tun würde, dass sie nicht zur Stelle gewesen war, um ihm zu helfen. Der Gedanke, dass sein Vater sie auch noch gezüchtigt hätte, fachte Rhaegos Wut erst richtig an.
„Er hätte sogar...“ Sein Satz wurde von einem lauten Krachen unterbrochen. Erschrocken fuhr er herum. Ein paar Bäume hinter ihm waren eingeknickt, als hätte etwas sie mit enormer Wucht getroffen. Jedes einzelne Blatt war von kleinen Flammen umhüllt, die sich vor Rhaegos Augen zu einer einzigen Feuerbrunst vereinigten. Das Feuer griff rasch um sich, schon entflammten die Bäume, die daneben standen, es verbreitete sich rasend schnell. Da löste sich Rhaenys aus ihrer Starre, sie zog Rhaego am Ärmel zurück, durch die kleine Lücke, die die Flammen noch nicht geschlossen hatten. Als er die Hitze auf seinem Gesicht spürte, erwachte er aus der Trance, in die ihn der Anblick der Flammen versetzt hatte, drehte sich auch um und folgte Rhaenys selbstständig. Hinter ihm loderte das Feuer noch einmal auf, er wagte nicht, sich umzudrehen, erst als die Kühle des Waldes ihn wieder umfing. Er sah kurz über die Schulter und blieb stehen.
„Rhaenys“, flüsterte er heiser. Auch sie drehte sich um, wollte ihn wieder zu Eile antreiben und hielt mit offenem Mund inne.
Sie hätten das Feuer sehen müssen. Die Lohe hätte selbst über die Wipfel der anderen Bäume sichtbar sein sollen. Aber hinter ihnen war nichts außergewöhnliches, kein Licht, keine Flammen, nur die Ruhe und Kälte des Waldes.
„Das ist nicht normal“, flüsterte sie. „Das kann nicht sein. Rhaego, nicht!“
Er hatte sich in Bewegung gesetzt, den Weg zurück, den sie gekommen waren, als ob er von irgendetwas angezogen worden wäre. Sie griff nach seinem Arm, um ihn zu stoppen.
„Bitte, Rhaego, da stimmt was nicht, geh da nicht hin.“
Rhaego sah in die großen flehenden Augen seines Schattens und wäre beinahe wieder umgekehrt. Aber er antwortete: „Ich muss, Rhaenys. Ich muss es sehen.“
Dennoch war er froh, dass seine Schwester ihm folgte, als er zu der Brandstelle zurückkehrte.
Geschwärzte Bäume erwarteten ihn dort, Asche, Asche unter seine Füßen, Asche auf den Ästen, die das Feuer von Laub befreit hatte, Asche, die mit jeder Bewegung der Luft erneut empor gehoben wurde und sanft auf die Zwillinge herabrieselte.
Doch von Feuer keine Spur. Fast hätte er geglaubt, sich alles nur eingebildet zu haben, doch die Spuren des Brandes waren deutlich. Angst kroch in ihm hoch, langte mit langen Fingern nach ihm. Zitternd drehte er sich um und sah sich seiner Schwester gegenüber, die bleich wie die Asche um sie herum war und mit bleichen Augen auf das vor ihr liegende Bild starrte.
„Lass uns gehen“, flüsterte er. Seine Stimme war rau, sie klang viel älter als er eigentlich war. Rhaenys nickte schwach. Gleichzeitig setzten sie sich in Bewegung und flohen von diesem unheimlichen Ort – noch schneller, als sie vor dem Feuer geflohen waren.


Das war schon so lange her. Jetzt war er erwachsen, hatte seine Magie unter Kontrolle und war im Turm des Zirkels eingesperrt. Und wünschte sich, es wäre anders gekommen.
Mit einem letzten Blick über die Schulter aus dem Fenster erhob er sich und ging zu seinem Schreibtisch. Aber die Scheibe spiegelte nun nur noch den erleuchteten Innenraum wider.