Leirâ sah wirklich nicht gut aus. Rhaego hatte einige Vermutungen, was genau verletzt sein könnte, die sich zu bestätigen schienen, als sie unter Alriks Berührung schmerzerfüllt aufkeuchte. Allerdings könnte er ihr in diesem Fall nicht sonderlich gut helfen. Er wäre höchstens in der Lage, Knochen und Gewebe zu stabilisieren, so dass die Heilung leichter und schmerzfreier verlaufen würde.
Dennoch war er recht froh, dass Juliette die Sache in die Hand nahm und sich um die Dalish kümmerte. Er bezweifelte zwar, dass sie wirklich helfen konnte – die heilerischen Möglichkeiten ohne Magie waren eben sehr begrenzt – doch dann musste er sich wenigstens nicht entscheiden, ob er es riskieren sollte, Magie einzusetzen. Denn Magie war immer gefährlich für lebendes Gewebe. Ein einziger Fehler konnte reichen und Leirâ hätte schlimmere Probleme als gebrochene Rippen. Es hatte eben seinen Grund, dass die Heiler immer zu den besten und erfahrensten Magiern des Zirkels gehörten.

Die Orlaisianerin sprach leise aber bestimmt mit Leirâ. Rhaego musste zugeben, dass sie wirklich gut mit der Situation umging, als hätte sie schon eine Menge Erfahrung. Schließlich bat sie die Elfe, ihr Oberteil auszuziehen, damit sie die Verletzungen besser beurteilen konnte.
Bevor die Elfe ihrer Bitte allerdings nachkommen konnte, erinnerte Juliette Alrik und ihn selbst, dass sie den Templer noch bestatten mussten. Rhaego verstand den Sinn der sehr abweisenden Bitte erst richtig, als er Alriks gerötete Wangen sah. Der Magier zog die Augenbrauen hoch. Glaubte diese Orlaisianerin wirklich, er hätte noch nie einen weiblichen Körper gesehen? Oder tat sie es aus Rücksicht auf die Dalish? Er konnte es sich nicht so recht vorstellen, dass sie etwas aus Rücksicht auf irgendjemand anderen tat. Ihm wäre auch nicht eingefallen, dass er stören könnte. Hätte er sich um Leirâ gekümmert, hätte er ihren Oberkörper auch begutachten müssen. Nun ja, vielleicht hätte das die Dalish gestört, vielleicht war es wirklich besser, dass Juliette das erledigte. Im Zirkel selbst war man nicht so streng, was diese Gebote der Schicklichkeit anging. Zum einen hatten die Heiler ein anderes Verhältnis zum Körper und weniger Schamgefühl, was das anging, zum anderen war es einfach unmöglich, auf so engem Raum miteinander zu leben und nicht einiges von den anderen mitzubekommen. Rhaego selbst war auch nicht so naiv, dass er noch nie eine Frau nackt gesehen hätte. Oder auch mehr. Was das anging, lagen die Grenzen im Turm anders. Oder um genau zu sein, lagen sie bei den Templern. Jegliche Freizügigkeit hörte auf, sobald einer der Templer sich gestört fühlen könnte.

Alriks Gestammel brachte ihn wieder zurück. Anscheinend war der Mann noch sehr unverdorben. Während er Rhaego mit zurück zu dem Abgrund zog, versuchte er, das Thema zu wechseln.
„Wunderschöne Nacht, nicht?“, meinte er.
Rhaego nickte nur und knurrte irgendetwas zustimmendes.
Doch das hielt den Mann nicht davon ab, weiter zu reden.
„Und wie macht Ihr das jetzt?“, fragte er, mit einer leichten Mischung aus Schauder, Ekel und Neugier in der Stimme. „Müsst Ihr jetzt irgendwelche dämonischen Kräfte herbei beschwören? Benutzt ihr bestimmte Zauberformeln? Oder müsst ihr irgendein Ritus vollziehen?“
Seine Fragen rissen nicht ab. Rhaego musste beinahe lachen, als er all die albernen Gerüchte hörte, die sich um das Wirken von Magie zu spannen schienen. Dennoch war er erstaunt, dass Alrik sich überhaupt traute, ihn darauf anzusprechen. Die meisten Menschen wären vermutlich weggerannt, wüssten sie, dass im Umkreis von einer Meile Magie ausgeübt werden würde.
„Wartet einfach ab“, erklärte er mit einem Lächeln.
Alrik schien vorzuhaben, in den Abgrund herabzusteigen, um den Templer zu bestatten. Der Magier folgte ihm ein Stück den Rand der Kluft entlang, während dieser nach einer geeigneten Abstiegsmöglichkeit suchte, bis einige Sträucher sie verbargen und den Frauen den Anschein von Privatsphäre boten. Dort hielt er dann an.
Er hatte nun wirklich keine Lust, erst dort hinunter zu klettern, nur um anschließend wieder emporzukraxeln. Im Licht der Sterne konnte er auch von hier noch die Rüstung des Templers schimmern sehen. Er war recht überrascht gewesen, dass Juliette nichts dagegen hatte, den Leichnam mit Magie zu verbrennen, doch ihm sollte es recht sein.
„Wartet“, sagte er zu Alrik. "Gleich werdet Ihr sehen."

Einen Moment schloss er die Augen und sammelte sich. Dann baute er – sanft und leicht, und dennoch im Bruchteil einer Sekunde – eine Verbindung zum Nichts auf, in dem er die natürliche Nähe, die er schon immer zur Welt der Träume gehabt hatte, verstärkte. Scheinbar ganz langsam und doch in Wirklichkeit rasend schnell begann das Nichts in seinen Adern zu fließen.
Gleichzeitig spürte er die Kraft, die jenseits des Schleiers, der die Welten trennte, auf ihn wartete. Er erinnerte sich genau, wie schwer ihm früher das gefallen war, wofür er nun nur einen konzentrierten Gedanken benötigte. Es kam ihm vor wie eine gedankliche Geste, der Griff nach dem Unerreichbaren, eine kleine Bewegung, und schon war die Kraft des Nichts in dieser Welt. Gleichzeitig hatte er schon einen mentalen Kanal gebaut, der diese neue Energie genau formte, sie dorthin leitete, wo er sie haben wollte.
Einen Herzschlag lang hielt er so inne, während diese unglaubliche Macht in ihm pulsierte und ihn mit Leben zu erfüllen schien. Dann öffnete er die Augen, hob die Hände und setzte sie frei.
Ein gleißend heller Feuerstrahl schoss aus seinen Händen, durchbrach die Dunkelheit der Nacht und erleuchtete für den Bruchteil eines Augenblicks den Leichnam des Templers, ehe er ihn einhüllte. Das Feuer fraß sich sofort durch die Schichten des Stoffes, biss sich in das Fleisch Ser Gileans und verzehrte den Leichnam. Rauch stieg auf, mit ihm der Geruch nach verbranntem Fleisch. Nun zehrte die Hitze auch an dem Metall der Rüstung, verbog es, ließ es Blasen werfen.
Noch einmal verstärkte Rhaego die Kraft, die er aus dem Nichts zog und steigerte die Hitze des Feuers. Dann brach er den Kontakt zum Nichts ab. Mit einem leisen Keuchen machte er einen wackeligen Schritt nach vorne, um das Gleichgewicht zu halten. Sobald das lebendige Pulsieren des Nichts aus seinem Körper verschwunden war, fühlte er sich viel schwächer. Die Nacht erschien auf einmal noch dunkler und kälter. Er hatte mehr Mana gebraucht, als unbedingt nötig gewesen wäre. Doch ein Blick in den Abgrund zeigte, dass es sich gelohnt hatte. Wo vor wenigen Augenblicken noch Ser Gileans Leiche gelegen hatte, war nun nur noch ein unförmiger Klumpen aus verbranntem Metall, der noch leicht glühte. Niemand, der das fand, würde erkennen können, dass hier einst ein Templer gelegen hatte.

Erschöpft setzte sich Rhaego in das kühle Gras und bedeutete Alrik, der ihn mit entsetztem Blick musterte, es ihm gleich zu tun. Der Bursche ließ sich gehorsam auf den Boden gleiten. Er sah ziemlich geschockt aus, was Rhaego ein müdes Lächeln entlockte. Er wäre auch erschrocken, hätte er gerade zum ersten Mal gesehen, welche Macht ein Magier in Sekundenbruchteilen entfachen konnte. Und das war noch gar nichts, verglichen mit dem, was er alles schon im Turm gesehen hatte. Oder was er selbst schon getan hatte.
Ungebeten drängten sich Erinnerungen auf. Deutlich konnte er noch das Stroh der Dächer riechen, als die Flammen sich über das Dorf hergemacht hatten. Er konnte die Stimmen hören, die zu ihm geflüstert hatten. Und er wusste noch, wie es sich angefühlt hatte, all seine Kräfte in eine Richtung fließen zu spüren, machtlos, ohne Kontrolle, hinein in das blaue Leuchten um den Templer herum, bis er schließlich absolut erschöpft war. Und er erinnerte sich an das Gesicht seiner Schwester, die ihm bisher immer wie ein Schatten gefolgt war, die immer zu ihm gehalten hatte und ihn nun an die Templer verraten hatte.

Langsam atmete er aus. Das war vergangen. Der verbrannte Geruch stammte nicht von den Strohdächern, sondern von den letzten Überresten um den rotglühenden metallenen Klumpen. Und gegenüber saß auch nicht seine Verdammnis. Eher sein Erlöser, auch wenn er den Gedanken bei diesem naiven Burschen ziemlich lachhaft fand. Obwohl es zu einem gewissen Grad wahr war. Immerhin hatte Alrik ihn aus dem Zirkel geholt.
„Lass uns einfach hier warten, bis die beiden da drüben fertig sind“, sagte er.