Denerim Marktplatz
Tag 3 - 7:28 Uhr
Schon bald hatte Leithil die Orientierung verloren. Im blassen Licht der Laterne ihres Vordermannes sahen die Gänge überall gleich aus. Nach wenigen Metern wurde ihr klar, dass es aussichtslos war, sich die Abzweigungen zu merken, die sie nahmen. Denn diese Gänge bildeten ein ganzes verwirrendes System. Mal bogen sie links ab, mal rechts, mal ignorierte ihr Führer alle wegführenden Gänge und führte sie längere Zeit geradeaus.
Daher begann sie, ihre Schritte zu zählen. Aber auch das gab sie dann irgendwann nach 800 oder 900 Schritten auf. Beide Männer waren äußerst schweigsam, und auch Leithil, nervös von dem was sie erwarten würde, versuchte nicht, ein Gespräch anzufangen.
Die Welt, die sie sehen konnte, war nur so groß, wie der Schein der Laterne reichte. Die Gänge waren so schmal, dass sie nur hintereinander gehen konnten. Ein Mann allein könnte sich hier gegen dutzende Gegner zur Wehr setzen. Vor allem gegen Leute aus der Wache oder Templer, deren lange Großschwerter auf dieser Enge nicht richtig eingesetzt werden konnten.
Die Welt, die sie hören konnte, beschränkte sich auf die leisen Fußtritte der anderen, durch den bloßen Erdboden gedämpft, und auf Ceirinns Atem, wenn sie dicht hinter ihr Luft holte.
Leithil nutzte diese Zeit um sich, ohne an Wachsamkeit nachzulassen, in ihre Erinnerungen zu versenken. Damals gab es diese Tunnel noch nicht. Der Meister und sie hatten sich mit den anderen in dem Haus getroffen, dass sie eben verlassen hatten.
Nach einiger Zeit blieb ihr Führer stehen und drehte sich um. Der Schein der Lampe, nun nicht mehr durch den Körper des Mannes gedämpft, blendete Leithil.
„Wartet hier bis ich wieder komme!“, sagte der Mann. Dann löschte er das Licht. In der plötzlichen Finsternis konnte Leithil ein scharrendes Geräusch hören, dann war alles wieder still. Ihre eigenen und auch Ceirinns Atemgeräusche erschienen ihr plötzlich dröhnend laut. Sie war froh, dass Ceirinn hinter ihr stand und sie nicht alleine warten musste.
Nach wenigen Augenblicken schwang plötzlich, zwei Armlängen vor ihr, eine Tür auf. Dahinter war nur ein Rechteck aus Licht zu sehen. Leithil trat vorsichtig vor und verließ die Gänge. Ceirinn folgte ihr und der Mann hinter ihr schloss die Tür wieder. Rasch hatten sich die Augen der beiden Elfen an die Helligkeit gewöhnt. Vor ihnen lag anscheinend ein ganz normales Zimmer.
Links stand ein Sofa, in der Ecke gegenüber ein Tisch mit drei Stühlen. Verschiedene normale Türen führten aus dem Zimmer, doch sie waren geschlossen. Neben einem Regal waren drei Fenster in die Wand eingelassen. Als Leithil einen kurzen Blick nach draußen warf, erkannte sie nur eine ganz normale Straße. Keine Besonderheiten, die verrieten, wo sie waren. Leithil vermutete, dass sie, nach der langen Wanderung in den Gängen, den Marktbezirk verlassen hatten. Das Haus an sich war nicht reich eingerichtet, aber verschiedene Details verrieten, Leithil, dass jemand sich hier gerne aufhielt. Die Fenster waren von Vorhängen umrahmt und auf der weißen, Fleckenlosen Tischdecke stand eine Vase, gefüllt mit frischen Blumen.
Zwei Personen, die auf dem Sofa gesessen hatten, erhoben sich. Ein Mann und eine Frau. Leithil bemerkte drei weitere Männer, die unauffällig im Hintergrund standen. Der Mann, der die Lampe getragen hatte, war einer von ihnen.
Die Frau strich sich langsam eine Strähne ihrer schulterlangen, rotblonden, von wenigen grauen Haaren durchzogenen Mähne zurück. Der Mann, der neben ihr stand – schwarze, kurze Haare und ein kurzer struppiger Bart, legte eine Hand auf das Schwert in seinem Gürtel, während er beide Elfen mit durchdringenden grauen Augen musterte.
Ein Gefühl des Wiedererkennens nagte an Leithils Hinterkopf. Sie konzentrierte sich darauf, um ihre verschütteten alten Erinnerungen wieder frei zu legen.
Inzwischen war der Mann mit seiner stummen Musterung fertig und fragte (oder vielmehr, er stellte fest): „Ihr wollt also unsere Hilfe, um jemanden zu finden.“