<--- Invisible Hand [Deck 4/5] - Maschinenraum
20:40 Uhr
Auf die Weisung des Kroganers hin machte sich das ungleiche Quartett wieder auf den Weg zur Krankenstation, um so auf dem Weg, auf dem sie den Maschinenraum erreicht hatten, diesen auch wieder zu verlassen und in den Hangar zu kommen, wo man sie evakuieren würde. Eve schwieg die ganze Zeit über, war sie doch mit gänzlich anderen Gedanken beschäftigt gewesen. Mit Alia waren alte Geister wieder gekommen. Sehr alte Geister, die Eve eigentlich schon für befriedet, für erlöst gehalten hatte. Dinge, die sie vergessen hatte. Die sie vergessen wollte. Doch mit jedem Schritt auf diesem Schiff waren die Wunden, die bereits verheilt gewesen schienen, wieder aufgerissen worden. Der Mars, die Zeit auf Noveria, die Zeit des ziellosen Umherwanderns durch das Universum.
Plötzlich rissen Geräusche, gefolgt von einem plötzlichen Aufflammen ihres „sechsten Sinns“ die Blinde aus ihrer Versunkenheit. Die Truppe war mittlerweile im Aufzug und vermutlich würde niemand anderes hören, was sie hörte, doch da war es. Dumpf, aber kaum hörbar. Es klang wie Schüsse… in der Krankenstation befand sich also noch jemand. Und allem Anschein nach war dieser Jemand ein Biotiker. Oder Zwei, der Intensität der Energieströme nach zu urteilen. Eve hob ihren Kopf, legte ihn etwas schief.
„Du hörst das nicht oder?“ Eve hielt den Blick erhoben, auf die Decke des Aufzugs gerichtet. Noch ehe der Kroganer antworten konnte, erklang auch schon das typische „Ding“ des Aufzugs, das signalisierte, dass die gewünschte Etage erreicht worden war.
Das Geräusch der Waffe, die auf sie gerichtet wurde, drang noch während die Türen aufgingen an Eves Ohren. Es hörte sich an als würde der Träger der Pistole zittern und das am ganzen Leib. Es war kein Nebelparder, nein. Eve hatte vielmehr das Gefühl, diesen Mann, denn das war er, sein Atem klang keinesfalls weiblich, bereits einmal getroffen zu haben. Im Hangar vielleicht?
Sanft legte sie ihre winzig erscheinende Hand auf den Schrotflintenlauf, den der kroganische Berserker neben ihr sofort in die Höhe gerissen hatte. T’Karr war erstaunt, vermutlich hatte er ein- oder zweimal geblinzelt, doch schließlich folgte er dem stummen Befehl. Nein, es war kein Befehl. Es war eine Bitte. Eine Bitte an einen Verbündeten, Teamkameraden, Waffenbruder. An einen Freund. Noch während er langsam den gigantisch anmutenden Lauf sinken ließ, drehte sie ihren Kopf zu ihm, sah ihm über die Schulter entgegen. Und selbst wenn er wusste, dass sie nicht sehen konnte, so wusste er doch, dass sie ihn fixierte. Dessen war sie sich sicher. Ein Jäger erkannte es immer, wenn die Beute ihn ausgemacht hatte, auch wenn im Moment das Verhältnis der beiden eher weniger feindlich ausgeprägt war, ganz im Gegenteil, doch die Metapher schien Eve bei dem kroganischen Kampftier am ehesten angebracht.
„Er ist keine Gefahr“, flüsterte sie, nahm die Hand von dem kühlen Stahllauf und ging weiter. Ständig auf ihren Blindenstock gestützt. Trotz ihrer Blindheit stolzierte sie mit einer Sicherheit durch das Chaos um sie herum, die von außen sicherlich fremd aussehen musste. Doch schließlich war sie es gewesen, die das Massaker hier angerichtet hatte. Direkt neben dem Mann, der noch immer am Boden sitzend verharrte, blieb sie stehen und sah sich um. Natürlich sah sie sich nicht wirklich um, doch die Bewegungen ihres Kopfes ließen wohl diesen Trugschluss zu. In Wirklichkeit aber tastete sie mit ihren Ohren die Umgebung ab. Es war still. Sehr still.
Dann hörte sie ein Stöhnen. Leise und kraftlos, doch der Rest der Gruppe hatte es sicherlich auch gehört. Neugierig humpelte Eve in die Richtung des Stöhnens und wäre beinahe über die Stühle und Teile eines Tisches gestolpert, die sich direkt im Türrahmen befanden. Hier hatte das Duell stattgefunden. Unsicher ob der Gegenstände, die wohl als Wurf- und Schlagwaffen benutzt wurden, ging Eve langsam durch den Raum. Es war ein Untersuchungszimmer. Viel Raum für einen Kampf war hier nicht gewesen, was allein wegen der verteilten Möbel schon klar wurde. Man hatte alles versucht, um den Gegner von sich fern zu halten und dabei schien wohl irgendetwas schief gelaufen zu sein.
Eve machte jemanden unter einem Haufen Möbel aus. Mehrere Stühle, ein oder zwei Tische. Natürlich, denn ohne Bewusstsein konnte man auch keine herumfliegenden Einrichtungsgegenstände kontrollieren. Zaghaft und ohne große Kraftaufwendung stocherte sie in dem Haufen vor ihr herum, womit sie durch ihren Stock höchstens ein bisschen Gerumpel verursachte, jedoch den Verschütteten nicht frei bekam. Nachdem sie ein paar der Stühle mit den Händen beiseite geräumt hatte, versuchte sie den Tisch mit Biotik zu entfernen. Sie war körperlich viel zu schwach, um den Tisch alleine hochheben zu können. Doch Biotik war natürlich bedeutend anstrengender. Nach ein paar Sekunden durchdrang ein fieser Kopfschmerz, ein Ziehen, das sich anfühlte wie ein Kurzschwert, dass durch das Auge hindurchstach und am Hinterkopf wieder austrat, und Eve ging in die Knie. Auch der Tisch fiel wieder herab, geradewegs auf den Begrabenen, was solange keine Katastrophe war, solange er keinen Rippenbruch oder ähnliches erlitten hatte. Ihr Magen verkrampfte sich und zog sich schlagartig zusammen, sodass sie erbrechen musste. Der saure Geschmack der Magensäure, denn mittlerweile war nichts anderes mehr übrig, was erbrochen werden könnte, vermischte sich mit ihrem Speichel. Und noch etwas… es war ein komischer Geschmack, beinahe… eisern! Eve fuhr sich mit dem rechten Zeigefinger über die Lippe und spürte eine warme Flüssigkeit daran hinabfließen. Sie hatte Blut erbrochen.
Erneut stöhnte der Mann vor ihr. Eve sah auf, tastete den Brustkorb ab. Keine Fraktur, keine offene Wunde. Sie tastete das Gesicht ab, wobei ihre dünnen Finger auf einen bekannten Bart stießen. Es war der Biotiker aus dem Hangar, der sie gehindert hatte, einen Nebelparder weiter zu verhören.
„Was… wer…“, der Mann kam stöhnend wieder zu Bewusstsein und strich Eves kleine Hände aus seinem Gesicht, „wer sind Sie?“
Aus irgendeinem Grund zauberte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, das jedoch dem etwas verstörtem, versteinertem Blick wich, als Eve realisierte, dass sie grinsend vor einem beinahe bewusstlosen Mann kniete.
„Eve“, antwortete sie, während sie sich langsam und sichtbar angestrengt aufrichtete, „Sie sollten zusehen, dass Sie von hier verschwinden. Wir haben den Antrieb überlastet.“