„Oh oh.“
Das war der einzige Kommentar, der von den Quarianern, genauer gesagt von der Biotikerin, zu Eves Einwänden kam. Da sonst nichts weiter gesagt wurde, nahm Eve an, man wäre mit ihrem Plan einverstanden und sie drehte sich wieder nach vorne. Quarianische Biotiker waren eine Seltenheit in der Galaxie, weshalb die Blinde gerne mit diesem Exemplar etwas gesprochen hätte, um mehr über die Herkunft und die Kraft quarianischer Biotik zu erfahren, aber im Moment war wichtigeres zu erledigen. Nichtsdestotrotz nahm sich Eve vor, nach der Schlacht mit der Biotikerin zu sprechen. Falls die Quarianerin dann überhaupt noch am Leben war. Falls Eve dann noch am Leben war.
Was wohl der menschliche Biotiker im Hangar wohl im Moment tat? Ob er noch lebte?
Das sanfte Abbremsen des Aufzugs, sowie Eves leichtes Kopfschütteln brachten ihre Gedanken wieder zur derzeitigen Situation zurück. Ihre Konzentration lies nach, die Gedanken schweiften ab. Es wurde Zeit.
Schließlich öffneten sich die Aufzugtüren und Eve schickte sofort ein Effektfeld in den Raum dahinter, während ihr Körper von einer blau schimmernden Barriere eingedeckt wurde. Der Raum, in den sie als erste aus der Gruppe vordrang, war nicht besonders groß, doch es fanden fünf Nebelparder Raum darin.
„Biotiker!“, hörte sie eine weibliche Stimme alarmiert ausrufen und sofort wandte sie ihren Blick. Die dunkle Energie, mit der sie den Körper der Frau abtastete, ließen eine schwere Rüstung erahnen, der die vermutlich weiblichen Kurven der Frau überdeckten und maskuliner erschienen lassen. In der Hand der Parderin befand sich eine Schrotflinte, aus der sich auch sofort ein Schuss löste. Doch die Projektile verpufften wirkungslos an der Barriere der blinden Biotikerin, die ruhig und mit leicht gesenktem Blick wie versteinert im Raum stand.
„Schlampe“, raunte die schwere Soldatin und gab einen weiteren Schuss aus ihrer Flinte ab, der nicht minder wirkungslos blieb. Erst jetzt bewegte sich Eve langsam auf die Nebelparderin zu. „Stirb doch!“ Der Wunsch der Soldatin ging nicht in Erfüllung, als sie ein weiteres Mal aus ihrer Waffe einen Schuss direkt in Eves Richtung abgab. Zwar spürte Eve mittlerweile einen dumpfen Schlag in der Magengegend, aber ihre Barriere hielt noch immer stand.
Plötzlich ertönte ein tiefer, den Raum erfüllender Kriegsschrei, wie ihn nur ein Kroganer loslassen konnte.
„Ryan“, keuchte die Nebelparderin und Eve konnte hören, wie die Waffe zu Boden fiel, „Ryan!“ Das zweite Mal rief sie den Namen, kreischte ihn schon fast, was die Gelegenheit für Eve war. Mit drei weiten Schritten, verstärkt durch den Einsatz von Biotik, war sie bei der Frau, die geschockt ihre Pistole gezogen hatte. Bevor sie die Zweitwaffe jedoch auf die Blinde richten konnte, schleuderte ein biotischer Stoß die Soldatin meterweit durch die Luft. Noch ehe die Parderin auf dem Boden aufgekommen war, hatte ihr Eve nachgesetzt und sie landete direkt auf der schwer gepanzerten Brust. Ein zweiter, etwas schwächerer Stoß entwaffnete die Frau, indem die Waffe irgendwo fernab klappernd auf dem Boden landete.
Mit einer Hand auf dem Hals der Frau abstützend und sie so am Aufstehen hindernd, setzte Eve gerade dazu an, mit einem biotischen Stoß die Parderin auszuschalten, ehe sie aber mitten in der Ausholbewegung inne hielt.
„Was ist, traust du dich nicht?“, spottete das Opfer der Blinden, aber die Worte verhallten im Nirvana. Eve war längst nicht mehr in diesem Raum, auf diesem Schiff, in diesem System. Langsam, aber immer heftiger werdend verzerrte sich ihr „Sichtfeld“. Die dunkle Energie, die ihr das Sehen ermöglichte, verzerrte sich in unkenntliche Formen und der Schlachtenlärm um sie herum verstummte langsam, nur um anderem Geschrei zu weichen: kleine Kinder, Teenager, Erwachsene, die wild durcheinander schrien. Eine Explosion, deren Hitzewelle Eve in diesem Moment auf ihrer Haut spürte, obwohl in diesem Raum sicher nichts explodiert war.
Spätestens jetzt war sie vollends in ihrer Vision, ihrem Albtraum verschwunden.
Scheiben zersplitterten, als sie die schweren Tische meterweit durch die Luft segeln lies, nur um einen der gläsernen Beobachtungskorridore zerstören zu können. Vor ein paar Minuten erst hatte sie es geschafft, die Eskorte, die sie in ihre Zelle bringen sollte, auszuschalten. Über und über war ihre weite und vermutlich weiße Laborbekleidung mit dem Blut ihrer Wächter befleckt, sie spürte es sogar in ihrem Haar und den Augen, die zu dieser Zeit noch nicht von einer Binde bedeckt gewesen waren. Jeder Wissenschaftler, der sie bisher untersucht hatte, hatte bei ihrer ersten Begegnung immer gesagt, was für schöne Augen sie doch hätte, doch Eve hörte die Angst, die dabei in deren Stimmen lag.
Unsicher machte Eve weitere Schritte, die ein leises Klatschen hinterliesen, wenn die nackten Füße auf den kalten Stahl trafen, doch weit kam sie nicht. Ein Schuss traf den Teenager direkt in die Schulter und sie wurde jäh von der Schreddermunition zur Seite gerissen.
Wie sie es schon immer gewohnt war, tastete Eve den Schützen ab, nur um einen unterdrückten Aufschrei zu hören. Es war der Sicherheitschef gewesen, der auf sie geschossen hatte und in seiner Hand war... Alia! Alia, die kleine, unscheinbare Neue. Zu dieser Zeit war der menschliche Teil in Eve noch stark genug gewesen, sie davon abzuhalten, einfach beide in den Tod zu stoßen.
Dann sagte der Kopf der Stützpunktsicherheit zwei Worte, die sich in das Gedächtnis der Blinden gebrannt hatten: „Scheiß Biotikerluder.“
Und mit einem Mal war sie wieder in der Schlacht um den Träger Invisible Hand. Von einer Sekunde zur nächsten waren die Schlachtgeräusche wieder da, Schmerzens- oder Kampfesschreie, Schüsse, die von den Stahlwänden abprallten. Und mitten darin die Stimme der Soldatin, die Eve unverändert festhielt.
„Scheiß Biotikerluder.“ Jetzt war die Blinde wieder da. Die maximale Kraft ihrer Biotik in der Rechten versammelnd, lies Eve die zur Faust geballte Hand auf die Soldatin herabfahren. Dem Geräusch zerknackender Knochen, reißender Sehnen und dem Gefühl warmen Bluts in ihrem Gesicht nach zu urteilen, war die Frau nach dieser Attacke schon ausgeschaltet. Doch Eve lies nicht locker. Wieder und wieder hieb sie auf die Frau ein, verstärkt von ihrer Biotik, die wohl nur noch eine unkenntliche Masse von dem, was einst der weibliche Kopf gewesen sein mag, hinterließ. Wie lange die Blinde den Körper mit ihrer Biotik auseinander nahm oder wie lange sie weitergemacht hätte, konnte sie nicht sagen. Sie war in einem rauschartigen Zustand, den sie auf eine einzige Ursache zurückführen konnte: die Spritzen fingen an zu wirken.
Schließlich spürte sie zwei Hände an ihrer Schulter, die die blinde Frau rabiat nach oben riss, weg von der Toten. Sie war kurz davor, denjenigen, der da dazwischen schritt, mit einem ebenso heftigem Stoß durch den Raum zu schicken, doch im letzten Moment erkannte sie die Quarianerin, diejenige, welche sich selbst als Noa bezeichnete. Es war gefährlich knapp, beinahe hätte sie ein essentielles Mitglied des Teams getötet. Ein Teil von ihr war noch immer in Rage, weshalb die Blinde diese Tatsache in Kauf nahm, auch wenn das eine Gefahr für die Mission bedeutete.
Jetzt war auch wieder Eves Fähigkeit zurückgekehrt, Konturen mit ihrer Biotik zu erahnen und für sie war sofort klar, dass jeder Muskel in Noas Körper gerade unter höchster Anspannung stehen musste. Angst... sie hatte Angst. Ein Gefühl, welches Eve nur zu gut von Begegnungen mit anderen Lebewesen kannte.