=> Die Citadel: Zivile Andockbuchten
Nachdem Sheridan mit der Botschaft Kontakt aufgenommen hatte und auf seine Abholung wartete, setzte er sich neben dem öffentlichen Terminal auf seinen Seesack und ließ seine Gedanken schweifen. Ohne sein Zutun wanderten sie zurück. Nach Shanxi, in den Krieg.
Schwer fiel der Regen. Der Boden hatte sich schon lange in eine morastige Suppe verwandelt, auf der das Vorankommen mit schwerem Kriegsgerät so gut wie ausgeschlossen war. Radfahrzeuge fuhren sich schon nach kürzester Zeit fest, die Räder von riesigen, schlammigen Blöcken umgeben. Die wenigen Kettenfahrzeuge, über die die Invasionseinheit verfügte, wurden anderswo gebraucht. Sie würden zu Fuß vorrücken müssen, auch wenn das bedeutete, hüfthoch im Schlamm zu versinken. Trübsinnig starrte er unter seinem Regencape auf die vor ihnen liegende Anhöhe. Dort drüben hockten die Turianer, deren Situation sich wahrscheinlich nicht von ihrer unterschied. In den wenigen trockenen Momente wurden von beiden Seiten dazu genutzt Ausfälle zu machen, in der Hoffnung doch eine durchlässige Stelle in den gegnerischen Reihen zu finden. Aber da war keine. So stürmten beide Seiten vor, nur um einen hohen Blutzoll im gegnerischen Feuer zu entrichten.
Er konnte nicht sagen, welche Seite zuerst angefangen hatte, auf die Sanitäter zu schießen. Jedenfalls waren sie bald soweit gewesen, dass die verbleibenden zu kostbar – und auch nicht annährend verrückt genug – waren, als dass man sie zum Einsammeln und Versorgen der Verletzten zwischen den Fronten hätte benutzen können. Und so blieben die Verwundeten dort, wo sie gefallen waren. Die Schmerzensschreie der menschlichen Infanteristen mischten sich mit den wimmernden Lauten, die die turianischen Verwundeten von sich gaben. Sie drangen auch noch nach der Schlacht zu den Schützengräben. Laut erst, dann immer leiser, wurden sie zu einem unverständlichen Murmeln. Dann verstummten sie.
Er nährte sich Corporal Hicks. Der Mann hatte Glück gehabt, eine turianische Schrapnellgranate hatte im einen Teil des Gesichts weggerissen, aber das war zu einem Zeitpunkt geschehen, als man ihn noch hatte bergen können. Der Corporal stand in den Steighilfen neben dem Eingang zum Befehlsstand und späte mit seinem einen verbliebenen Auge durch ein Scherenfernrohr. Die rechte Seite seines Gesichts war von einem dicken Mullverband bedeckt, der an einigen Stellen bereits durchgeblutet war. Man musste kein Feldscheer sein, um zu erkennen, dass Hicks ins Lazarett und nicht in einen Beobachtungsposten gehörte. Aber sie hatten in diesem Abschnitt zu wenig Leute und konnten sich nicht leisten, auch nur einen Beobachtungsposten unbesetzt zu lassen.
Sheridan klopfte Hicks auf den Oberschenkel. Der Corporal zuckte zusammen und starrte entsetzt nach unten, als er den jungen Kadetten erkannte, entspannte er sich wieder. „Soll ich sie ablösen, Corporal“, fragte Sheridan. Der Corporal grinzte, wobei es so aussah, als würde sich sein Kopf spalten. Man konnte erkennen, dass dem Corporal ein Großteil seiner Zähne fehlte, von Haut und Deckgewebe seiner rechten Wange mal ganz zu Schweigen. Sheridan schauderte unwillkürlich. „Ist nicht nötig, Sir“, entgegnete Hicks. „Ist ja nicht so, als ob ich was Besseres vorhätte!“
Wie alt mochte Hicks wohl sein, fragte sich Sheridan. Vielleicht so alt wie sein Vater. Also eigentlich im besten Alter. Doch wenn er nach Hause kommen würde wäre er auch nur einer der Kriegsversehrten dieses unsäglichen Krieges. Jemand an dem die Leute auf der Straße tuschelnd vorbeigehen würden und bei dem sie schnell verlegen wegschauten, wenn sich zufällig die Blicke trafen. Konnte es eigentlich eine Rechtfertigung dafür geben, sich gegenseitig abzuschlachten, fragte er sich, nur um sich die Frage sogleich zu beantworten: Natürlich nicht! Aber manchmal hatte man keine Wahl. Die Turianer hatten angefangen. Sie hatten den ersten Schuss gefeuert. Die Menschheit hatte sich nur verteidigt. Aber trotzdem fühlte sich alles hier entsetzlich falsch an.
„Sir?“ Sheridan schreckte auf, er hatte nicht gemerkt, dass der Corporal mit ihm gesprochen hatte. „Entschuldigung, ich war in Gedanken.“ „Ich hatte gefragt, ob sie mir vielleicht eine Zigarette geben könnten, Sir?“ Hicks zuckte die Schultern und lächelte schuldbewusst, „ich weiß, der Doc hat gesagt, das Rauchen wird mich umbringen, aber mal im Ernst!“ Er deutete auf die Umgebung, das Schlachtfeld, die Turianer. „Und ein alter Mann, wie ich bekommt keine Zigarette an, wenn ihm dauernd die Streichhölzer nass werden.“
Sheridan trat in den Eingang des Unterstandes, dort zog er eine Zigarette aus dem Päckchen, dass er stets bei sich trug, auch wenn er nicht rauchte. Zündete sie an und brachte sie, die Glut sorgfältig mit der Hand vor dem Regen schützend hinaus zu Hicks. Er reichte sie dem Corporal und nickte. „Danke, Sir“, sagte Hicks und brachte tatsächlich so etwas wie ein Salutieren zustande. Dann nahm er einen tiefen Zug, inhalierte den Rauch genüsslich und stöhnte, „ah, das hat gut getan. Sie haben einem alten Mann einen großen Gefallen erwiesen.“ Er richtete sich auf und wollte wieder an das Scherenfernrohr treten. In diesem Moment krachte der Schuss.
Dort, wo eben noch Hicks Kopf gewesen war, befand sich auf einmal nur noch eine blutige Masse. Blut, Knochenfragmente und Gehirnmasse regneten auf Sheridan nieder. Er bekam etwas davon in den Mund. Dann, wie in Zeitlupe, kippte das, was von Hicks übrig war, nach hinten von der Steighilfe und schlug mit einem widerlichen, klatschenden Geräusch im Schützengraben auf. Sheridan übergab sich heftig.
Diese Bilder benutzte das Allianzmilitär nie, wenn es neue Soldaten anwarb. Immer nur Hochglanzbilder von eleganten Kriegsschiffen oder freundlich lächelnden Kriegshelden ohne jede Narbe, die von einer glücklichen und dankbaren Bevölkerung begrüßt wurden. Aber so war es nie, Krieg war Gewalt, war gleichgültig, war sinnlos.
Sheridan weinte.
Die Uhr zeigte 12:10 Uhr am vierten Tag.
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