In Windeseile flogen die faltigen Finger über die Tastatur des Terminals und es war eindeutig, dass hier Eile geboten war. Extranetseiten wurden aufgerufen, Bilder auf den Bildschirm gezogen und vergrößert, sowie Routen berechnet, während im Hintergrund der Funk auf Hochtouren lief.
„Was ist jetzt?“
„Ich mache ja schon!“, keifte Horatio und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Vor ihm breitete sich ein Kartennetz der Citadel aus, genauer gesagt von dem Bezirk, in welchem sich gerade Montague befand. Auf der Flucht. In einem gestohlenem Krankenwagen.
„Der Junge ist doch verrückt“, murmelte der altgediente Spion und rückte sich die Brille zurecht, „okay, er kann sich auf der Karuso Avenue halten und dort weiter in Richtung Helena Square.“
„Das ist doch eine Hauptstraße!“
Horatio schnalzte mit der Zunge. Am anderen Ende war Snooker, ein Brite im selben Alter wie Montague, jedoch im Agenten-Business um einiges versierter. Sicherlich nicht das erste Mal, dass er vor den Behörden flüchtete, doch Montague hatte es mit dem Diebstahl eines Krankenwagens auf eine neue Spitze getrieben.
„Am gesamten Vierer- und Fünferblock werden gerade massive Renovierungsarbeiten vorgenommen, da kann er sie abhängen“, erwiderte Horatio, fügte dann jedoch leise gemurmelt noch hinzu, „wenn er sich klug anstellt…“


Zur gleichen Zeit fegte besagter Krankenwagen mit Montague am Steuer aus der Tiefgarage des Krankenhauses, einem Pfeil gleich hinaus in den wie immer geschäftigen Verkehr der Citadel und sofort in die Höhe.
„Ach du Scheiße!“, brachte der Fahrer, Montague oder Konrad, je nach dem wie man ihn nun nennen wollte, gerade noch so heraus, ehe er nur haarscharf an einem Schwerlasttransporter vorbeizog, dem er rotzfrech die Vorfahrt genommen hatte. Bis zum Anschlag hatte er die Steuereinrichtung zu sich heran gerissen, um das Fahrzeug möglichst weit in die Höhe zu bekommen. Eine harsche Lenkbewegung später und er war auf der Hauptstraße, jedoch einige Meter oberhalb der Trasse, die der Regelung des Verkehrs diente.
„Auf die Karuso!“, schallte es durch den Nevermore-Funk und Konrad gehorchte. Hastig schmiss er sich einen Kaugummi ein, um den Stress etwas zu lindern, doch sein Hirn raste weiterhin. Ein Blick in den Rückspiegel verriet ihm sogleich, dass bereits die ersten Streifenwagen die Verfolgung aufgenommen hatten. Der Ex-Polizist trat weiter aufs Gas und zischte über die Köpfe der anderen Verkehrsteilnehmer vorbei, nach rechts in eine Seitenstraße und von dort direkt wieder nach links in eine parallel verlaufende Straße.
„Fuck!“, stieß er aus, als er den Tunnel, sein nächstes Zwischenziel, und den sich davor bildenden Stau sah, „bei der 102er-Unterführung ist Stau!“
„Okay, umfahren Sie in Richtung-“
„Keine Zeit!“
Ohne zu bremsen, donnerte Konrad mit seinem Krankenwagen in den Tunnel hinein. Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte und plötzlich spürte der Ex-Polizist den Fahrtwind um seine Ohren pfeifen. Aus dem zuvor noch souverän seine Ankunft ankündigenden Martinshorn war jetzt ein mehr oder weniger erbärmliches Tröten geworden. Ein kurzer Blick nach oben verriet ihm, dass er bei der Einfahrt in den Tunnel seine Sirene und ein Stück des Daches liegen gelassen hatte. Unbeirrt raste er weiter, wobei nur eine Handbreit zwischen seinem Wagen und den Leuten im Stau oder der Decke des Tunnels lag. Von seinem Manöver sichtlich unbeeindruckt, hefteten sich die Streifenwägen direkt an seine Fersen, die natürlich nicht so hoch waren wie die Ambulanz und deswegen nirgendwo aneckten.
„Sergeant Richter, halten Sie augenblicklich den Wagen an! Gegen Sie liegt ein Haftbefehl vor“, erklang es aus dem Funk des Krankenwagens und Konrad fluchte. Er sah zum Funkgerät, dann wieder hektisch auf die Straße und entschloss sich, mit einem beherzten Tritt die nervige Stimme irgendeines namenlosen C-Sec-Beamten zum Verstummen zu bringen. Ein riskanter Schlenker war der Preis für dieses Manöver und sein Krankenwagen machte kurzerhand eine funkensprühende Bekanntschaft mit der Tunnelwand. Ein Streifenwagen nutzte die Gelegenheit, um aufzuschließen.
„Fuck!“
Beinahe Kopf an Kopf stachen der Krankenwagen und die Polizei aus dem Tunnel zurück an die „frische Luft“ der Citadel. Konrad sah hastig zur Seite, riss das Lenkrad ein und rammte seinen Verfolger, der sich daraufhin wieder zurückfallen ließ.
„Okay, ich komme jetzt gleich auf die Karuso. Was dann?“
„Richtung Helena Square. Dort sammle ich Sie auf.“
Konrad bestätigte und nahm Kurs auf den Platz, der ein relativ beliebtes Ziel für Touristen war und zu jeder Uhrzeit gut besucht. Nicht das ideale Ziel für eine Aufnahme, aber die Verwirrung würde sicherlich den zwei etwas chaotischen Agenten in die Hände spielen. Zumindest hoffte Konrad das, denn den Fahrmanövern seiner Verfolger nach zu urteilen, wollten diese jetzt Ernst machen.

Der Krankenwagen, der mittlerweile aussah, als ob er in den Moshpit eines kroganischen Hard-Rock-Festivals geraten war, nahm mit schlenkernden Bewegungen Kurs auf den großen Helena Square, als Snooker die Zigarette aus dem Fenster schnippte und den Motor seines Wagens anließ.
„Bei dem großen Baukran sammle ich Sie auf“, funkte der Brite und hob mit einer korkenzieherartigen Bewegung ab, um Kurs auf den Kran zu nehmen, als es eine Reihe herber, terra-novarianischer Flüche durch den Funk hagelte. Snooker sah zur Seite durch das Fahrerfenster und sah, wie der übel zugerichtete Krankenwagen steil nach oben flog, von beiden Seiten durch die Streifenwägen gerammt wurde und schließlich durch eine Leuchtreklame donnerte, die sogleich in tausende Splitter zerbarst. Ein schmerzhaft lauter Knall ertönte, der Krankenwagen stieß dunklen, schwarzen Rauch aus und das Martinshorn verreckte nun zwar langsam, aber dafür endgültig.
„Oh shit“, murmelte Snooker und riss das Lenkrad herum. Sein Innerstes sagte ihm, er solle sich an den Plan halten und bei dem Kran warten, doch als er so sah, wie der Krankenwagen noch ein paar mickrige Meter steil nach oben flog, um dann immer langsamer zu werden, für einige Schrecksekunden in der Luft stehen zu bleiben und schließlich wie im freien Fall nach unten zu rauschen, da schmiss der Brite den Plan über den Haufen und bretterte nun seinerseits dorthin, wo er den Aufschlag des Shuttles vermutete.

„Fuck, fuck, fuck!“, brüllte Konrad und riss wie ein wilder an der Lenkvorrichtung des Shuttles herum, dessen Inneres vor lauter Alarmsignalen und leuchtenden Warnsymbolen in eine Art minimalistische Disko verwandelt worden war.
„Nun reagier schon, du Scheißteil!“
Die Fahrt war holprig gewesen. Als den C-Sec-Beamten aufgefallen war, dass sie Konrad nicht zum Stehenbleiben bewegen konnten, setzten sie ein Ramm-Manöver nach dem nächsten an und auch der ein oder andere Schuss in Richtung seiner Kondensatoren war gefallen. Vermutlich war ein Querschläger daran schuld, dass der Ex-Polizist jetzt gerade völlig die Kontrolle über den Wagen verloren hatte und mit diesem geradewegs auf ein Baugerüst an einem größeren Gebäudeblock zuraste.
„Ooohh Scheeeiiissssseeeeeee!“, rief er, sich dabei an allem erdenklichen festhaltend, während die Fassade und ihr Gerüst vor ihm immer größer wurden.
Dann krachte es nur noch. Es durchfuhr ein heftiger Ruck das Shuttle und Konrad wurde so brachial in den Gurt gepresst, dass es ihm die Luft aus den Lungen trieb. Mit einem lauten Bersten ging die Windschutzscheibe zu Bruch und allerhand Teile flogen dem ehemaligen Polizisten um die Ohren. Es krachte und donnerte nur so um ihn herum, während der Krankenwagen erst durch mehrere Ebenen des Baugerüstes rauschte und schließlich mit dem eigentlichen Gebäude kollidierte, ja sich sogar in ihm verkeilte und begann, sich durch die gläserne Fasse zu bohren. Ein weiterer Stoß ging durch das gesamte Shuttle und wie in Zeitlupe schwebte die gesamte Gurtvorrichtung – eigentlich zur Sicherheit des Fahrers entworfen – an dem jungen Ex-Polizisten vorbei, der dem ganzen nur fassungslos hinterherstarren konnte. Ein erneuter Ruck warf Konrad dabei beinahe fast aus seinem Sitz, während dieser mit Schrecken feststellen musste, wie die Beifahrertür gefährlich stark eingedellt wurde, der Beifahrersitz dadurch gelockert wurde und durch das Loch, wo einmal eine Windschutzscheibe war, hinaus in die Wildnis des Citadel-Verkehrs flog. Schließlich, und das sollte diesen wilden Rodeo-Ritt des ehemaligen Polizisten beenden, krachte es ein letztes Mal, nachdem sich die Schwerkraft einmal umgedreht hatte und Konrad in einer äußerst unangenehmen Position dort lag, wo gerade eben noch der Beifahrersitz hing. Der Krankenwagen war irgendwo aufgeschlagen und dort jetzt knirschend zum Stillstand gekommen.
„Montague!“, dröhnte es aus dem Funk, „Montague, hören Sie mich?“
„Uh“, stöhnte Konrad und versuchte, sich aufzurichten, wobei er sich die ersten Augenblicke so erfolgreich anstellte wie ein Marienkäfer, der auf dem Rücken lag, „ich… mir geht’s gut.“
Der Ex-Cop stellte fest, dass es ihn in den Fußraum des Beifahrers geschmissen hatte – dementsprechend zusammengestaucht und „kompakt“ war Konrad, doch nach einigen ruckartigen Bewegungen gelang es ihm auch, sich aus dieser engen Nische zu befreien und über das Loch, das die Windschutzscheibe hinterlassen hatte, den Krankenwagen zu verlassen.

Das hoffnungslos zerdroschene Fahrzeug lag kopfüber in einer Gasse, die sich zwischen zwei gerade mitten in einer Renovierung steckenden Blocks befand. Leise knisterte es und ein hauchdünner Rauchfaden stieg vom Motor hoch. Konrad rollte angestrengt den Kopf, sowie die Schultern und stöhnte laut auf. Alles, aber auch wirklich alles an seinem Körper tat ihm weh. Er hatte das Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben wirklich jede einzelne Sehne, jede Muskelfaser, jede einzelne Zelle, die sich in ihm befand, bewusst wahrzunehmen. Es war die Hölle. Mit geschlossenen Augen atmete er tief durch und tastete sich vorsichtig die wichtigen Stellen ab: Genick war in Ordnung. Die Rippen waren noch dort, wie sie hingehörten. Bauch, Hüfte und Leiste waren unverletzt. Sein bestes Stück war noch ganz. Weder Knie, noch Knöchel oder Schienbein waren gebrochen. Konrad seufzte erleichtert und rieb sich über das Gesicht. Was für ein verdammtes Schwein er doch hatte. Lange Zeit, um durchzuatmen blieb ihm jedoch nicht. Snookers Gleiter rauschte über seinem Kopf davon, gefolgt von einem hastigen Funkspruch des Briten: „Die Sec! Wir treffen uns weiter hinten.“
„Ihr wollt mich doch verarschen…“, murmelte der Ex-Polizist, als er eine ganze Schaar seiner ehemaligen Kollegen circa fünfzig Meter von sich entfernt in die Gasse preschen sah. Beinahe synchron sahen sie sich nach allen Seiten um, ehe sie Konrad ausmachten, auf ihn zeigten und wild durcheinander riefen. Dieser wiederum machte das einzig vernünftige: auf dem Absatz kehrt und schnelle Vorwärtsbewegungen mit den ohnehin schon geschundenen Beinen. Die Bruchlandung war jedoch keineswegs spurlos an ihm vorbeigegangen, weshalb die Polizisten relativ schnell zu ihm aufschlossen. Einzig das Adrenalin, das gerade gefühlt literweise durch Konrads Adern schoss, hielt sie noch davon ab, ihn einzuholen. Rabiat polterte der ehemalige Polizist durch dünne Spanplatten und bog um eine Ecke, wo er einen etwas älter wirkenden Salarianer über den Haufen rannte. Die Kiste mit Salat und anderem Gemüse, die der Ladenbesitzer vor sich hertrug, zerbrach ebenfalls und ihr Inhalt flog kreuz und quer durch die Luft. Konrad hielt sich nicht lange damit auf, sondern rannte weiter, immer gleichmäßig wie ein Bulle schnaufend, um die einsetzende Milchsäurebildung in seinen Oberschenkeln zu verlangsamen. Seine Muskeln brannten höllisch und flehten um jeden Kubikzentimeter Sauerstoff.
„In die Baustelle, bis ganz nach oben!“
Mehr als ein bestätigendes Grunzen brachte Konrad nicht mehr heraus. Er stellte nichts in Frage, weder wohin Snooker ihn führte, noch wo er jetzt genau hin sollte. Zu sehr war er mit seinem Körper beschäftigt. Ohne viel Umsehens rumpelte er also durch eine Zauntür, die Zutritt zu einer Baustelle verschaffte und rannte in das, was in dem Stahlbetonskelett vor ihm mal ein Treppenhaus werden sollte. Innerlich vor der Tatsache resignierend, sich jetzt auch noch Stufe für Stufe nach oben zu quälen, kämpfte sich der Polizist so weit nach oben, bis es nicht mehr weiterging und er in einer absolut freien, nur von Säulen durchzogene Ebene des entstehenden Hauses stand. Unter ihm waren bereits laute Rufe der Sec zu hören, sodass Konrad wild nach Luft schnappend nach dem nächsten Schritt fragte.
„Ostseite.“
Konrad sah, wie Snookers Wagen dort mit geöffneter Seitentüre schwebte und Konrad rannte ohne zu zögern los. Ein letztes Mal, feuerte er sich innerlich an, ein letztes Mal, Junge! Gib Stoff, dann kannst du dich ausruhen!
Plötzlich krachte es und Betonsplitter flogen durch die Luft. Instinktiv zog Konrad den Kopf ein.
„Spinnt ihr?“, schrie er seinen ehemaligen Kollegen zu, die wohl offensichtlich Ernst machen wollten. Sofort bereute Konrad jedoch, seine Atmung vernachlässigt zu haben, als sich sein stechendes Zwerchfell meldete.
Weitere Schüsse flogen durch die Luft, noch mehr Betonsplitter und angetrieben durch die Todesangst, preschte Konrad weiter nach vorne, das rettende Fahrzeug mit seinem geöffneten Laderaum stets im Blick habend. An der Kante angekommen, machte er einen beherzten Satz nach vorne, segelte für eine ihm ewig vorkommende Sekunde durch die Luft, ohne jeglichen Boden unter den Füßen, ehe er krachend und polternd hinter Snooker liegen blieb.
„Und jetzt nichts wie weg hier!“, rief Snooker, der den Motor des Wagens aufheulen ließ und in die Weite der Citadel jagte. Konrad indes rang nur lauthals Keuchend nach Luft – solle der Brite doch machen.